Die rassistischen Wurzeln der modernen Gynäkologie
Wie die Geschichte die moderne Geburtshilfe prägt.
*Übersetzung: Judith Quijano
Dieser Artikel dient Informationszwecken und stellt keine Produktempfehlung dar. Ein Teil des gynäkologischen Wissens wurde anhand unethischer und rassistischer Praktiken erworben (1). So wurden beispielsweise im Süden der USA versklavte Menschen afrikanischer Abstammung in schmerzvollen und unethischen medizinischen Experimenten als Subjekte eingesetzt – ob zu Lebzeiten oder nach ihrem Tod (1). Nähere Informationen findest du im weiteren Artikelverlauf.
Bis heute hat diese Entwicklung Konsequenzen auf den Zugang zu und die Qualität der Gesundheitsversorgung für alle. Die Schärfung des Bewusstseins für den problematischen Ursprung der Geburtshilfe ist der erste Schritt im Abbau rassistischer Vorurteile in modernen Gesundheitssystemen und in der Befähigung jedes Menschen, die besten Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen.
Die moderne Gynäkologie hat ihre Wurzeln in der amerikanischen Sklaverei
J. Marion Sims, ein umstrittener Arzt aus dem 19. Jahrhundert, gilt als "Vater der amerikanischen Gynäkologie". Er entwickelte den Vorgänger des modernen Spekulums und eine chirurgische Methode zur Behandlung der Blasenscheidenfistel (vesikovaginale Fistel), einer Öffnung zwischen der Scheidenwand und der Blase, die zu einer verlängerten, schweren vaginalen Geburt führen kann (2,3).
Er verfeinerte seine Techniken durch Experimente an versklavte Frauen afrikanischer Abstammung. Uns sind drei Namen von Frauen bekannt, an denen er Experimente durchführte: Anarcha, Betsey und Lucy (2). An jeder dieser Frauen wurde in vier Jahren ganze 40 Mal ohne Betäubung operiert. Sims pries derweil ihre Fähigkeit an, Schmerzen besonders gut ertragen zu können (2). Eine solche diskriminierende Denkweise war nicht unüblich: Über Jahrhunderte waren Ärzte der Überzeugung, Schwarze Menschen könnten Schmerzen besser standhalten als weiße Menschen (2).
Einige der Praktiken, die von Sims als Ergebnis der Experimente an versklavten Frauen entwickelt wurden, werden bis heute angewendet (4), jedoch treten ihre rassistischen und unmenschlichen Wurzeln erst heute zunehmend zu Tage. Im April 2018 wurde eine Debatte entfacht, als die Entscheidung getroffen wurde, eine Statue von J. Marion Sims im Central Park in New York City abzubauen (2).
Unethische Praktiken der Gebärmutterhalskrebs- und HPV-Forschung
1951 starb eine afroamerikanische Frau mit dem Namen Henrietta Lacks an agressivem Gebärmutterhalskrebs. Während sie in Behandlung war, wurden ohne ihr Wissen und Einverständnis Proben des Krebsgewebes entnommen und an Forscher weitergegeben – für damalige Zeiten Usus (5). Später wurde festgestellt, dass ihre Zellen ungewöhnlich langte lebten und in der Lage waren, sich produktiv zu vermehren, wodurch sie "unsterblich" wurden (5).
Die Zelllinie, auch als HeLa-Zellen bekannt, wurde großzügig an Wissenschaftler und Forscher weitergegeben (5). Im Laufe der Jahre haben diese Zellen eine entscheidende Rolle bei Entdeckungen im Bereich der Beseitigung der Kinderlähmung, in der Virologie, im Kampf gegen Krebserkrankungen, in der Genetik und anderen Fachgebieten gespielt. Zwischen 1953 und 2018 kamen diese Zellen in mehr als 110 000 Studien zum Einsatz (6). Außerdem wurden sie von Biotechnologieunternehmen erlösbringend verkauft und haben zu zahlreichen profitablen medizinischen Erkenntnisse beigetragen (5). Dennoch hat die Familie Lacks keinerlei finanzielle Entschädigung erhalten und wurde erst im Jahr 2012 (8), also viele Jahre später, vom National Institute of Health (7) anerkannt. Henrietta Lacks' medizinische Aufzeichnungen und ihr Genom wurden mehrfach ohne Zustimmung ihrer Familie veröffentlicht. Ihre Zellen werden bis heute global auf Grundlage eines zwischen ihrer Familie und dem NIH geschlossenen Vertrags (7,8) für medizinische Forschungszwecke eingesetzt – jedoch fordern viele Stimmen vor dem unethischen Hintergrund ihrer Gewinnung eine Reduzierung oder eine Nutzungsbeendigung der HeLa-Zellen (9).
Obwohl Henrietta Lacks' Zellen maßgeblich dazu beigetragen haben, einen Zusammenhang zwischen dem humanen Papillomavirus (HPV) und Gebärmutterhalskrebs (10) festzustellen, haben paradoxerweise BIPoC-Frauen immer noch schlechteren Zugang zu einer Behandlung von Gebärmutterhalskrebs (11-13). So sterben beispielsweise Schwarze und hispanische Frauen in den USA (12) weiterhin mit höherer Wahrscheinlichkeit an Gebärmutterhalskrebs (13) als alle anderen weiblichen Bevölkerungsgruppen. Im Vereinigten Königreich ist die Zahl Schwarzer Frauen, asiatischer Frauen und Frauen anderer ethnischer Minderheiten, bei denen ein zervikaler Abstrich erfolgt (11), geringer als die weißer Frauen. Dies kann zu einer höheren Inzidenz beim Gebärmutterhalskrebs führen, der schwere Krankheiten nach sich ziehen kann.
Die verstörende Geschichte der Verhütungsmittel und Geburtenkontrolle
In den 1950er Jahren waren puerto-ricanische Frauen die ersten Subjekte in Großstudien zur modernen Antibabypille (14). Der Harvard- und Cornell-Absolvent und Wissenschaftler Gregory Pincus wählte Puerto Rico als Ort für seine Experimente, da die Inselbewohner infolge der Kolonialisierung durch die USA verarmt waren. Zudem wurde in der Bevölkerung ein starker Bevölkerungszuwachs erwartet (14). Zahlreiche puerto-ricanische Frauen, die eingewilligt hatten, die Pille einzunehmen, waren sich jedoch nicht der Risiken des Arzneimittels bewusst und einige unter ihnen wussten nicht einmal, dass sie an einer klinischen Studie teilnahmen (14). Viele Studiensubjekte litten unter Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Schwindel und Blutklümpchen (14). Als eine sichere Version des Verhütungsmittels auf dem Markt erschien, erhielten puerto-ricanische Frauen trotz ihres Beitrags zur Entwicklung der Pille keinen Zugang zum Arzneimittel. Der Grund: Die neuere Formel wurde allein verheirateten Frauen auf dem Festland der Vereinigten Staaten von Amerika verschrieben (14).
Die Geschichte hinter der Entwicklung der Pille ist vergleichbar belastet. Die Vorreiterinnen der Verhütungsmittel Margaret Sanger, Gründerin von Planned Parenthood und Marie Stopes, Namensgeberin von Marie Stopes International vertraten die Meinung, dass Frauen erst dann wirklich frei sein würden, wenn sie ihre eigene Schwangerschaft regulieren könnten (15). Dennoch teilten sie zur gleichen Zeit die Überzeugungen der amerikanischen Eugenik-Bewegung. Insbesondere waren sie der Meinung, dass Bevölkerungsgruppen vermeintlich "minderwertiger" Personen durch Geburtenkontrolle reguliert werden sollten (15).
Obwohl die Eugenik-Theorie seither verworfen wurde, bietet die moderne Geschichtsschreibung weiterhin Beispiele von Regierungen und Institutionen, die Verhütungsmittel zur Geburtenkontrolle in marginalisierten Bevölkerungsgruppen nutzen. Seit Erscheinen der Dreimonatsspritze (Depo-Provera) im Jahr 1976 weisen Studien darauf hin, dass das Arzneimittel gezielt bei eingewanderten Bevölkerungsgruppen eingesetzt wurde. Eine 1978 durch die prominente Geburtshelferin Wendy Savage in East London durchgeführte Studie hat ergeben, dass ein Großteil der Frauen, denen Depo-Provera angeboten wurde, asiatischer Abstammung waren (16). 1979 wurde zudem einem 14-jährigen Schwarzen Mädchen der Arbeiterklassse unter Vollnarkose im Rahmen einer gänzlich unabhängigen medizinische Behandlung Depo-Provera injiziert (17). Als der zuständige Arzt zum Verstoß befragt wurde, antwortete er, dass er als Bürger dieses Landes moralisch dazu verpflichtet gewesen sei, so zu handeln (17). Etwa zur selben Zeit schloss sich die Organisation of Women of African and Asian Descent (OWAAD) mit anderen Gruppen zusammen und startete die Campaign Against Depo-Provera (CAPD), um auf die unverhältnismäßige Nutzung des Arzneimittels bei marginalisierten Bevölkerungsgruppen aufmerksam zu machen (18).
1981 wurde Depo-Provera in Simbabwe teils aus dem Grund verboten (19), weil es von der weißen Regierung als eine Form der Geburtenkontrolle bei Schwarzen simbabwischen Frauen eingesetzt worden war. (Dies stimmte mit der Geschlechterpolitik jener Zeit überein. Das Verbot spiegelte ferner die Sorge wider, dass das Verhütungsmittel Frauen befähigen würde, ohne Einverständnis ihrer männlichen Partner Entscheidungen über Reproduktion zu treffen (19).)
Langzeit-Verhütungsmittel wurden auch im Strafrechtssystem missbräuchlich verwendet (20). Anfang der 1990er Jahre wurden in den USA zahlreiche Gesetzesentwürfe eingebracht, die die Einwilligung von Frauen über die Einsetzung eines Hormonimplantats im Tausch gegen Sozialleistungen oder zur Vorbeugung einer Gefängnisstrafe vorsahen (20). Die American Civil Liberties Union (ACLU) hat diese Maßnahmen mehrfach als verfassungswidrigen reproduktiven Zwang angeprangert (20). 2017 bot ein Richter in Tennesse jenen Personen eine Haftverkürzung um 30 Tage an, die einer Vasektomie (chirurgischer Eingriff zur Sterilisation des Mannes) oder der Einsetzung eines Hormonimplantats einwilligten (21). Er wurde schließlich vom Tennessee Board of Judicial Conduct verwarnt (21).
Marginalisierte Bevölkerungsgruppen kämpfen weltweit nicht nur gegen die missbräuchliche Verwendung von Verhütungsmitteln, sondern seit langer Zeit auch gegen Maßnahmen zur Zwangssterilisation. Studien haben in 38 Ländern Fälle von Zwangssterilisation festgestellt. Erst kürzlich wurden in Ländern wie Namibia und Südafrika, die nach wie vor unter den Auswirkungen der HIV-Epidemie leiden, Frauen, die mit HIV leben, ohne ihr Einverständnis zwangssterilisiert. 2018 strebten 60 kanadische indigene Frauen eine Sammelklage an. Sie werfen den Behörden vor, zur Sterilisierung gezwungen worden sein. Inmitten der wachsenden Kritik über den Umgang mit Migranten in US-Haftanstalten meldete sich im September 2020 ein Whistleblower zu Wort und brachte ans Licht, dass spanischsprachigen Frauen ohne ihr Einverständnis die Gebärmutter entfernt wurde (Hysterektomie).
Ethnische Unterschiede in der reproduktiven Gesundheit von heute
Bis heute herrschen in der reproduktiven Gesundheit ethnische Unterschiede vor. Im Vereinigten Königreich etwa sterben Schwarze Frauen im Vergleich zu weißen Frauen mit fünfmal höherer Wahrscheinlichkeit während oder kurz nach der Geburt (22). In den USA ist der Anteil Schwarzer und indigener Frauen, die während oder kurz nach der Schwangerschaft sterben, zwei bis drei Mal höher als der weißer Frauen (23). Hinzu kommt, dass nicht-weißen Frauen in den USA während und nach der Geburt seltener Schmerzmittel verabreicht werden (24, 25).
Indem das Bewusstsein für Gräueltaten der Vergangenheit und Gegenwart in der Gynäkologie geschärft wird, kann eine gerechtere Zukunft für die reproduktive Gesundheit geschaffen werden. Organisationen wie das Guttmacher Institute, das sich in den USA für die sexuellen und reproduktiven Gesundheitsrechte einsetzt, fordern eine Gesundheitspolitik, die benachteiligte Bevölkerungsgruppen schützt und ethisch vertretbare Forschung betreibt. Darüber hinaus gewinnen gemeinschaftsbasierte Organisationen wie Sister Song in den USA und die von mir gegründete Organisation Decolonising Contraception im Vereinigten Königreich an Dynamik: Wir kämpfen für reproduktive Gerechtigkeit, indem wir strukturelle Faktoren aufdecken, die zu unzureichendem Zugang zu reproduktiver Gesundheitsversorgung führen.
Schließlich treten Studierende und Mitglieder medizinischer Fakultäten weltweit für eine Überarbeitung ihrer Lehrpläne ein, damit darin der diskriminierende und koloniale Kontext der westlichen Medizin thematisiert wird und um an Anarcha, Betsey, Lucy, Henrietta Lacks und die unzähligen Frauen zu erinnern, denen im Namen der Medizin Schaden zugefügt wurde.
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